An diesem Bild bleibe ich hängen. Warum?

Manchmal verschießt man eine Rolle Film, bringt sie ins Labor, holt die entwickelten Fotos ab, guckt sie kurz durch und vergisst sie gleich wieder. All die Bilder , die man im Leben so schießt…Manchmal bleibt man aber auch an einem Motiv länger hängen. Schaut genauer, blättert weiter, blättert zurück, legt es auf den Stapel zu den anderen, nimmt ihn wieder in die Hand. Es kommt mir gleichermaßen fremd und bekannt vor. Ich meine es zu kennen, doch bin ich gleichzeitig neugierig auf das, was ich da sehe. Wie kann das sein? Ich habe es doch selbst geknipst. Es ist auch erst ein paar Wochen her, dass ich auf den Auslöser drückte. Warum fordert dieses Foto meine Aufmerksamkeit geradezu ein? Bin ich etwa selbstverliebt? Bin ich nur ein eitler Fotograph, der sich am eigenen Werk ergötzt? Ein-Bild Gehen wir der Sache mal auf den Grund. Warum fesselt mich dieses Foto? Aufgabe: Bildanalyse in zwei Stufen. Erst mal muss das Formale abgearbeitet werden. Bildgestaltung, technische Aspekte und so weiter. Dann schauen wir mal hinter den Vorhang des Kopftheaters. Welches Schauspiel findet im Herzen, Kopf, in der Seele statt, wenn man ein bestimmtes Foto betrachtet? Stufe 1: Formales Kamera/Film:
  • Kamera: Diana „Toycamera“ aus den 1960er Jahren
  • Einfache Plastikmeniskuslinse
  • Es wurde ein 120 Mittelformatfilm verwendet. Genauer gesagt: Ilford-XP2, 400 ISO. Schwarz/Weiß (C41)
Foto:
  • Das Foto ist schwarz/weiß.
  • Das Filmmaterial weißt eine relativ grobe Körnung auf.
  • Das Negativ ist ein 4x4 cm großes Quadrat.
  • Aufgrund der lockeren Filmwicklung liegt das Material nicht plan in der Kamera und zeigt somit keine geraden Negativkanten. Die leichte Wellung des Films führt zu gebogenen/unregelmäßigen Rändern.
  • Das Negativ weist Kratzspuren auf. Diese rühren vermutlich von den Plastikkanten im Inneren der Kamera her.
  • Das Bild besteht aus mehr als dem eigentlichen Foto. Das gesamte Negativ wurde gescannt. Das Motiv ist also umrahmt von einem schwarzen Rand. Dieser wurde bewusst nicht weg geschnitten.
  • Es gibt große Schärfeunterschiede im Bild. Der schärfste Punkt liegt in Etwa in der Bildmitte. Zu den Rändern hin fällt der Grad der Schärfe ab. Erkennbare Tiefenschärfeunterschiede sind nicht auszumachen. Dies resultiert aus den kleinen Blenden der Diana Kamera (ca. f11,f13,f19)
  • Das zentrale Bildelement, der Mann mit der Gitarre, ist auf der rechten vertikalen Drittelachse positioniert. Der Kopf trifft nur mit dem Bart den Schwerpunkt im Kreuz der rechten vertikalen und unteren horizontalen Drittelachse. („Rule of Thirds“/Drittelregel)
  • Die Bordsteinkante sowie die helle Front der Landenlokale liegen (fast) genau auf den beiden horizontalen Drittelachsen. Drittel
  • Die Blickachse des Mannes im Bild ist auf die Mitte des Motivs gerichtet. Der Mittlere Bereich, ist ebenso wie der Kopf des Mannes fast weiß. Es gibt also eine gedachte Linie zwischen diesen beiden Bildpunkten. („Implied lines“) Blickrichtung
  • Es gibt einen starken Helligkeitskontrast zwischen der Jacke und dem Kopf, den Haaren, der Mütze des Mannes auf dem Bild. Fast das gesamte untere rechte Bildneuntel ist schwarz und gibt diesem Teil des Fotos eine gewisse Schwere, die sich von der hellen Leichtigkeit des Kopfes abhebt. Die dunkle Jacke bildet somit einen negativen Raum. („Negativ Space“) negativ-space
2. Kopftheater: Das schwarzweiße, grobkörnige, verkratzte Foto löst Assoziationen des Vergangenen aus. Blicke ich auf ein Bild aus dem jetzt oder auf eins von früher? Natürlich erinnere ich mich an den Moment an einem Samstag Mitte Februar 2015, als ich auf den Auslöser meiner Diana Kamera drückte. Aber das Bild scheint aus einer anderen Zeit zu sein. Je länger ich darauf blicke, desto mehr vergesse ich das fotografieren und je mehr sinniere ich über Bild an sich. Als hätte ich es irgendwo in einer Kiste auf einem fremden Dachboden entdeckt, als stammte es nicht aus meiner eigenen Kamera. Ich beginne, mir Fragen zu stellen…. Woran denkt der Seemann mit der Gitarre? Wovon handeln seine Lieder? In welcher Sprache sind seine Worte verfasst? Sing er überhaupt oder bleibt er stumm? Sieht der das Schild am Restaurant auf der anderen Straßenseite, welches von Vietnamesischen Köstlichkeiten kündet? War er vielleicht in jungen Jahren auf einer seiner Reisen in Asien und träumt sich, begleitet von seiner Gitarre, dorthin zurück? Oder blickt er einfach nur in die Ferne? Sieht er das Restaurantschild vielleicht überhaupt nicht? Trägt er ein Kostüm oder ist die Seemannsmütze echt? Hat er Salzwasser im Blut oder ist er bloß eine Landratte mit Mütze? Warum sitzt der alte Mann an der Straßenecke und musiziert? Ist er ein Straßenmusiker, dem es um die Groschen der Passanten geht? Oder spielt er nur für sich? Wie viele Leute ziehen an ihm vorbei? Wie viele bleiben stehen, lauschen seiner Musik? Ist er Teil der Nachbarschaft, sitzt an „seiner“ Ecke? Oder ist er nur zu Besuch im Viertel, in der Stadt? Interessanter Weise, bin ich selbst nur sehr kurz stehen geblieben, habe seiner Musik nicht gelauscht. Ich habe mir all die obigen Fragen nicht gestellt, als ich das Foto machte. Ich fand die Situation einfach optisch ansprechend. Ein bisschen skurril, ein Blickfang – aber nach wenigen Sekunden zog ich weiter. Ich verweile länger am Foto als am Ort des Fotografierens. Woran liegt das?